Was ist Identität?

So, 3.1.2021, 15:30-17:30 Uhr
Was ist Identität?
TeilnehmerInnen: Anja

Das Jahr fängt ja gut an! Wie soll ich die Identität als Philosophischer Praktiker erklimmen, wenn mir die Anerkennung der Menschen fehlt und immer weniger TeilnehmerInnen an diesem Sonntagsdienst des Geistes teilnehmen?

Aber nicht etwa durch Jammern haben wir etwas über die Identität herausgefunden, sondern durch das Nachdenken darüber, u.z. dass uns Identität Halt gibt. Es beginnt schon kurz nachdem wir auf die Welt kommen: alles schwankt; bald bietet sich unserem Geist ein Gesicht, ein Geräusch, ein Geruch, ein Geschmack, eine Berührung, ein Gegenstand an und kurze Zeit später ist das Phänomen wieder weg. Unser Gedächtnis funktioniert noch nicht so, wie es soll und so warten wir am Wickeltisch oder im Kinderwagen, bis wir mit Hilfe einer gesteigerten Gedächtnisleistung fähig sind, Objekte zu speichern und zu erinnern. Wir wissen dann, dass Objekte, die unter dem Tisch, oder hinter der nächsten Ecke verschwinden, nicht wirklich verschwinden. Das nennt man die Fähigkeit zur Objektkonstanz. Endlich haben wir etwas gefunden, das uns beruhigt. Etwas Festes das bleibt, inmitten der schwankenden, bodenlosen Welt – zumindest im Gedächtnis.

Wann immer wir von nun an mental taumeln oder uns Gefühle schwindlig machen, suchen wir Zuflucht zu etwas, das fest verspricht zu bleiben. Etwas, das scheinbar schon immer da war; auch schon vor unserer Geburt. Daher ist die Heimat, das Land unserer Ahnen, ein beliebter Ankerplatz der Identität. Zur Identifikation sind jedoch prinzipiell alle Objekte geeignet, die versprechen zu bleiben, also etwa Ehefrauen oder -männer, eine Firmenmarke, die schon seit 1847 besteht, Marmor, Stein und Eisen, ewige, und daher heilige Wahrheiten usw. Um der pulsierenden Dynamik des Lebens etwas Statisches entgegen zu setzen, haben wir das Versprechen und den Vertrag erfunden, wurden sesshaft und bauten uns ein festes Zuhause, das uns vor dem „Wind of Change“ schützt und uns beruhigt.

Jedoch, in einer dialektisch schwingenden Welt wird das Erste einst zum Letzten. Das was uns einst beruhigt hat, entpuppt sich als Stachel, der sich immer tiefer in unser Fleisch bohrt. Das, was uns die Sorgen bislang abgenommen hat und wir es daher immer wieder aufsuchten, woran wir bislang erfolgreich festhielten, das, was zu unserer Identität wurde, bereitet uns zunehmend Schmerz und Kummer. Keine Identität gewährt ewigen Schutz. Ereignisse können eine Dynamik erzeugen, die vieles hinwegfegt. Ein Unfall, und der Traum vom Olympiagold hinterlässt nur mehr schweißnasse Leintücher. Der Zahn der Zeit zermahlt gemächlicher, aber ebenso gründlich, wie der dynamische Sturmwind eines Ereignisses, die liebgewordene Identität. Das feste Fleisch, die Blüte des Lebens vergeht und weder kosmetische Krücken, noch verschleierte Geburtsdaten oder retuschierte Bildnisse in den sozialen Medien können die alles zermalmende Zeit aufhalten. Es geziemt sich daher das Schaukeln alsbald zu erlernen, um von Identität zu Identität zu gleiten, ohne sich den Hals zu verrenken und ohne dabei zu quietschen – „Lebenskönnerschaft“ nennt das Gerd Achenbach in seinem gleichnamigen Buch.

Es soll im Leben auch vorkommen – um ehrlich zu sein ist es üblich –, dass wir Angeber sind: vor den Anderen, vor uns selbst. Wir sehnen uns im Stillen nach, oder prahlen lautstark mit, einer Identität die wir noch gar nicht haben, die noch gar nicht eins geworden ist mit uns. Um identisch mit einer Identität zu werden, gaukeln wir vor sie bereits zu haben und beleben die Signifikanten, also das was darauf hinweist die Identität zu besitzen und somit authentisch zu sein. So kann man derzeit auf Top 7 lautmalerischen Rülpsgeräuschen lauschen, denn wir beherbergen ein männliches Pubertier, das damit seinen Anspruch auf Männlichkeit demonstriert und umkreist. Was das Pubertier wahrscheinlich nicht so genau weiß aber wir wissen sollte ist, dass letztlich nur die Anerkennung der Anderen uns allmählich die Gewissheit der Authentizität beschert. Die bestätigende Anerkennung einer Identität durch die Anderen bezeugt unseren Gipfelsieg. Erst die Warteschlange, die sich bildet, weil nur maximal fünf Personen am Philosophischen Spaziergang teilnehmen können, erschafft die Gewissheit einer anerkannten Existenz als Philosophischer Praktiker.

Abschließend sei bemerkt, dass die Länge des Trauerzuges der Versuch einer sozialen Geste ist, die noch schnell auf eine gelungene irdische Existenz hindeuten will, bevor der übliche Windhauch alles wieder verweht.