Was ist Toleranz?

So, 8.11.2020, 16:00-18:00 Uhr
Was ist Toleranz?
TeilnehmerInnen: Marianne, Willi, Wolfgang, Matthias

Nach wie vor ist die Nervosität der neuen Teilnehmer zu Beginn bemerkenswert und nötigt mich ein wenig zu kalmieren und daran zu erinnern, dass wir darauf achten müssen, die Neugier und Lust am Denken herein zu lassen und stressende Erwartungen an uns selbst vor die Tür zu setzen. Der erste, schweigend begangene Weg, füllt sich rasch mit dicker konzentrierter Atmosphäre, in der relevante Geschichten über Begebenheiten im eigenen Leben, die zum thematischen Proviant passen, gesucht werden. Und dann am zweiten Teilstück lauschen wir der plötzlich erscheinenden Geschichte, zu dessen Erzählung irgendeiner der Spaziergänger innerlich gedrängt wird. Hier sind wir dem Zufälligen ausgeliefert. Das, was uns zugefallen ist, heben wir auf, in dem wir es gastfreundlich in unser Bewusstsein treten lassen und beginnen Fragen an den Gast zu stellen, der in Form diese Geschichte erscheint. Es sind Verständnisfragen, Fragen über zeitliche Abläufe, Fragen über Detailaspekte, die der Geschichtenerzähler beantwortet.

Auf dem dritten Teilstück unseres Philosophischen Spaziergangs ist Ostern. Wir suchen akribisch nach relevanten Details in der Geschichte, die einen Hinweis auf die Fragestellung enthalten können. Oft sind wir überrascht, welche Untiefen so eine vordergründig kleine, kurze Geschichte haben kann. Das so gesammelte Material wird dann auf dem vierten Teilstück mit Hilfe unserer geistigen Kräfte geordnet, denn der Verstand macht nichts lieber als zu differenzieren und zu ordnen – das ist sein Wesen und seine Bestimmung. Er verschlingt nicht gierig das Gefundene, sonder arrangiert es, damit wir es besser verstehen, begreifen und verdauen können.

Was ist Toleranz nun? Was haben wir entlang unseres Weges herausgefunden über diesen Begriff? Zunächst haben wir bemerkt, dass es einen Ort gibt, wo Toleranz keinen Sinn macht: in der Einsamkeit. Dem Einen, dem nichts Zweites gegenüber und im Weg stehen kann, braucht ihn nicht. Toleranz, also erdulden und ertragen, erscheint nur in der Vielfalt. Dort, wo sich die Vielfalt auftürmt, wo sich die Vielen auf engem Raum häufig begegnen, erhält der Begriff erst Bedeutung.

Die Last, die wir stemmen und ertragen können, ist nicht immer konstant. Sie schwankt, je nach unserer aktuellen physischen und psychischen Verfassung. Befinden wir uns in unserer Mitte, haben wir soeben im Lotto gewonnen, wurde uns ein Kind geboren; so sind wir beinahe bereit die ganze Welt zu umarmen und zu ertragen. Hatten wir einen dieser schweren Tage, wo allzu vieles nicht nach unserem Wunsch gelaufen ist, sind wir erschüttert über die Niederlage unseres Lieblingsklubs, haben wir soeben 100€ verloren; so lässt uns die nächste kleinste Belastung aufjaulen. Wir sind ungeduldig und intolerant.

Unser nächstes Fundstück war der Zusammenhang mit Wertvorstellungen. Toleranz wird nur notwendig, wenn es eine Vielfalt an Werten gibt. Nur dann, wenn in einem eingegrenzten Raum, mindestens zwei grob unterschiedliche Werte aufeinander treffen, ist sie gefragt. Wie kann ich den aktualisierten Wert des Anderen aushalten, der dem meinigen, jetzt gerade relevant gewordenen Wert, gegenüber steht? Um auf die erzählte Geschichte einzugehen: Wie kann ich akzeptieren, dass der Andere den Motor laufen lässt, (vermutlich) aufgrund seiner Wertschätzung der Abwärme des Motors im kalten Fahrgastraum, während ich den Wert eines schlafenden eigenen Kindes durch den Motorenlärm in Gefahr sehe?

Einen Schlüssel zur Regelung von Wertkonflikten haben wir auch entdeckt: die Empathie; das (am besten wechselseitige) Verstehen wollen und können des Anderen. Die Empathie wirkt wie ein Hebel, mit dem ich plötzlich Lasten heben (=tolerieren) kann, die zuvor Tonnen an Gewicht zu haben schienen. [So eine Einsicht ist eben nur möglich, wenn ich willens bin, vorübergehend die Identität des Anderen einzunehmen, sprich empathisch bin.] Die Fähigkeit zur Empathie steigert die Fähigkeit zur Toleranz und verringert Frequenz und Amplitude der Schwankungen, die weiter oben beschrieben wurden. Empathie ist also ein natürliches Beruhigungsmittel [das allerdings viel schwerer zu beschaffen ist, als Barbiturate aus der Apotheke – die im übrigen das Gedächtnis löschen].

Eine überstrapazierte Toleranz macht uns schläfrig und träge. Wir vergessen auf unsere Werte, die gleichzeitig auch immer Grenzen markieren und verzichten darauf entlang, dieser Grenzen auf Patrouille zu gehen. Die Grenzverletzung eines Intoleranten weckt uns. Denn wie ist es möglich tolerant zu den Intoleranten zu sein? Das geht nur im Tiefschlaf, wenn wir die Grenzverletzung nicht bemerken. Aber wenn der Intolerante wild um sich schießt und seine Opfer uns aufwecken, sind wir mit der Frage nach der Grenze der Toleranz konfrontiert. Und dann diskutieren, streiten, verhandeln wir über Werte. Und das ist so spannend, dass wir noch lange nach dem Spaziergang bei einer Flasche Wein miteinander geredet haben.